<< zur Übersicht Studienauftrag | 17. September 2020

«Ich finde es gut, dass Kriens den Mut hatte, zur Stadt zu werden»

Sieben Planerteams wurden für die zweite Studienauftragsphase ausgewählt, eine Projektstudie fürs Bell-Areal zu erarbeiten. Städtebau-Experte Rainer Klostermann, der der Jury vorsitzt, erklärt, was die bisherigen Erkenntnisse sind und warum die Teams anonym arbeiten. 

 

Rainer Klostermann, wie beurteilen Sie die Qualität und den Ideenreichtum der 15 eingereichten Arbeiten zum Studienauftrag?

Rainer Klostermann: Ich möchte noch keine Wertung vorwegnehmen. Aber die erste Phase des Studienauftrags hat bestätigt, dass es sich gelohnt hat, einen ersten Rundgang mit 15 Teams zu machen. Wir konnten aus Arbeiten auf hohem Niveau auswählen. Die sieben Konzepte, die nun vertieft werden, bieten unterschiedliche Ansätze, Details und Strategien. Ich bin zuversichtlich, dass wir in der zweiten Phase noch eine Steigerung erleben werden.

 

Warum hat man denn überhaupt ein zweistufiges Verfahren gewählt?

Dem Fach- und Sachgremium war es wichtig, in einem ersten Schritt ein möglichst breites Ideenspektrum abzuholen. Zudem schält sich durch den Vergleich der 15 Arbeiten heraus, wo die Probleme im städtebaulichen Gesamtkontext liegen – zum Beispiel die verkehrliche Anbindung, der Umgang mit denkmalgeschützten Gebäuden oder der Übergang zum angrenzenden Wohnquartier. Der Vorteil von zwei Stufen ist, dass die Jury die Erkenntnisse, die sie in der ersten Runde macht, in die zweite Runde einfliessen lassen kann. Dazu gehört auch, die Aufgabenstellung für die zweite Runde zu überdenken, zu überarbeiten und zu präzisieren.

 

Welche Erkenntnisse bezüglich Städtebau und Freiraum konnte die Jury denn bisher gewinnen oder festigen?

Grundsätzlich hat sich bestätigt, dass sich die industrielle Geschichte des Bell-Areals gut transportieren lässt: Einzelne Bauten lassen sich als Zeitzeugen mit gewissem Charme und identitätsstiftenden Räumen in eine neue Konzeption einbinden. Zudem hat sich herauskristallisiert, dass es gute Möglichkeiten gibt, das Areal so zu öffnen, dass es ein attraktives Stadtquartier gibt. Was bereits jetzt klar ist: Das Areal braucht gegen die Obernauerstrasse und die Bushaltestellen mehr Öffentlichkeit.

Eine weitere Erkenntnis ist, dass sich die angestrebte Nutzungsdichte auf dem Bell-Areal gut und sinnvoll umsetzen lässt. Es geht aber nicht allein um die Frage, wieviel wo von was gebaut wird, sondern auch, wie und wo sich die Menschen im neuen Stück Stadt bewegen und begegnen können. Bestätigt hat sich die Forderung nach Freiraum und Grünflächen aber auch wegen des Stadtklimas. Dabei spielt die räumliche Verteilung von Baum, Beeten und Anlagen eine Rolle, aber auch deren Grösse. Ein alter, grosser Baum zum Beispiel ist sehr viel wert – nicht nur, weil er schön ist. Durch Kondensation sorgt er für gleich viel Kühlung wie hundert neugepflanzte Bäume zusammen.

 

Welchen Herausforderungen müssen sich die verbleibenden sieben Teams in den kommenden Wochen stellen? Wo müssen sie besonders genau hinschauen?

Beim Bell-Areal ist die Einbindung der bestehenden Quartiere eine grosse Herausforderung – zum Beispiel gegen den Sonnenberg hin, wo ein ruhiges, niedrig bebautes Wohnquartier liegt. Egal, was auf dem Bell-Areal künftig entstehen wird: Es könnte zum Beispiel weniger Aussicht für die umliegenden Häuser bedeuten. Es ist eine grosse Aufgabe, die Nachbarschaft zu respektieren und integrieren.

Auf der anderen Seite des Areals gibt es einen schwierigen Übergang zur Kantonsstrasse. Wegen der Lärmvorschriften ist es eine Knacknuss, Wohnraum zur Strasse hin zu bauen. Es braucht auch gute Überlegungen zur Dichte und zum Umgang mit den zu erhaltenden Bauten. Es ist für die Teams eine anspruchsvolle Aufgabe, Quartierräume zu schaffen, die nicht nur räumlich, sondern auch wirtschaftlich tragbar sind. Wenn man eine bestehende grosse Halle nutzt, sieht das oft toll aus, aber man vergibt auch wertvolle Geschossfläche. Da braucht es ein gutes Konzept. Dazu kommen Brandschutz, Lärmschutz und viele andere Vorschriften.

 

Wie kann man bei einem solchen Wettbewerb sicherstellen, dass die Planerinnen und Planer verstehen, was eine Stadt wie Kriens und ihre Bevölkerung braucht?

Die Zusammensetzung der Jury ist sehr wichtig: Wir haben Expertinnen und Experten für Sozialräume, für Ökonomie und Stadtplanung, für Architektur und Freiraum – und daneben Vertreter aus Wirtschaft und Politik. Es braucht Fachleute, die die Sicht von aussen und den Blick fürs grosse Ganze haben, und es braucht Ortsansässige, die Kenntnisse von lokalen Begebenheiten und einen persönlichen Bezug mitbringen. Ich selber bin teilweise in Kriens aufgewachsen. Zum Bell-Areal hatte ich als Kind aber wenig Bezug, weil ich auf der anderen Seite der Stadt aufgewachsen bin. Das Einzige, das ich von der Firma Bell wahrnahm, war das Gleis in der Hauptstrasse – die nach Luzern fahrenden Lokomotiven wirkten neben den Autos wie riesige Monster.

 

Das Verfahren bleibt auch in der zweiten, vertiefenden Wettbewerbsphase anonym. Weshalb?

Wir haben uns entgegen den ursprünglichen Plänen entschieden, dass die Anonymität auch in der Vertiefungsphase beibehalten wird und dass es keine Schlusspräsentationen durch die Planungsteams gibt. Einerseits haben die Teilnehmenden das Anrecht, möglichst unabhängig beurteilt zu werden – ohne dass irgendwelche persönlichen Beziehungen oder eine allfällige frühere Zusammenarbeit eine Rolle spielen. Auf der anderen Seite schätzen es auch die Jurorinnen und Juroren, wenn sie nicht wissen, von wem die vorliegende Arbeit stammt und sie so ohne Ablenkung deren Inhalte diskutieren können.

 

Aus Ihrer professionellen Sicht und unabhängig vom laufenden Verfahren: Was für ein Stück Stadt wünschen Sie Kriens dereinst?

Städte haben eine gewisse Dichte-Aufgabe. Diese wird zwar gerade jetzt während der Corona-Pandemie hinterfragt. Doch ich glaube, diese Aufgabe wird nicht verschwinden, sondern durch neue differenzierte Überlegungen, zum Beispiel zur Mobilität, im Guten ergänzt werden. Mit gut organisierten Städten schützen wir unsere Landschaft. Man muss die Städte so bauen, dass die Qualität der Erholung, von der viele meinen, sie existiere nur auf dem Land, auch in der Stadt wahrgenommen werden kann. Städte müssen bis hin zu den Rändern dichter werden dürfen. Das Bell-Areal zeigt dieses Thema sehr schön auf. Es hat ja rund ums Areal bereits ein paar Hochhäuser, die neben Einfamilienhäusern stehen. Wenn sich jetzt mit dem Bell-Areal nochmals etwas Dichtes dazugesellt, finde ich das sinnvoll. Das stärkt den öffentlichen Verkehr, lokale Veloverbindungen und den öffentlichen Raum.

Ich finde es gut, dass Kriens den Mut hatte, zur Stadt zu werden. Damit übernimmt man ja auch Verantwortung – die Verantwortung für qualitätsvollen Siedlungsraum, der auch innerhalb von städtischen Strukturen den Umgang mit der Natur, von der Umwelt- bis zur Klimafrage, aber auch sozialräumliche Fragen lösen muss. Wenn man das nicht angeht, dann wird auf der grünen Wiese weitergebastelt. Als Städteplaner haben wir leider oft mit vernachlässigter Agglomeration zu tun. Dort sind die Räume eine Katastrophe, weil sich niemand die Mühe gemacht hat, sie urban zu denken.

Grundsätzlich herrscht ja die Tendenz, dass die Leute in die Städte ziehen. Also müssen wir dem auch gerecht werden. Es muss nicht immer im bestehenden Stadtzentrum sein. Städte werden immer polyzentrischer; man lebt zentral und gehört auch in äusseren Arealen zur Stadt. Gefragt sind heutzutage kurze Wege, durch ein attraktives Nutzungsangebot kann man sich sehr lange lokal aufhalten und einen grossen Teil seines Lebens an seinem Wohnort verbringen. Das wünsche ich auch Kriens.

 

 

Städtebau-Experte Rainer Klostermann sitzt der Jury des Studienwettbewerbs zum Bell-Areal vor. Zusammen mit seinem Partner Pierre Feddersen führt er das Architekturbüro Feddersen & Klostermann in der Zürcher Altstadt.